Blattkritik: Medienqualität entsteht im Markt

Was bringt das im August veröffentlichete Jahrbuch zur Medienqualität? Die Diskussion darüber läuft heiss: Medien reagieren empfindlich, die Herausgeber fühlen sich zu wenig differenziert gelesen. Auch Matthias Künzler von der Universität Zürich kritisiert an einem ZPV-Anlass die Mimosenhaftigkeit der Medien. Das Jahrbuch birgt interessante Erkenntnisse, etwas einseitige Schlüsse und damit Zündstoff. Von Marcel Bernet (Crossposting von bernetblog.ch)

Letzte Woche n Donnerstagabend lud der Zürcher Presseverein ZPV zur Blattkritik. Unter anderem kritisierte Oberassistent Matthias Künzler vom IPMZ der Universität Zürich die journalistische Kritik am Jahrbuch 2010 zur Qualität der Schweizer Medien. Zu empfindlich und zu oberflächlich sei die Auseinandersetzung mit den 373 Seiten (!) des Berichts ausgefallen. Die professorale Kritik fiel ebenfalls eher empfindlich aus. Wo kritisiert wird, fliegen die Fetzen. Ein Grund für den bernetblog, dem Jahrbuch endlich auf den Grund zu gehen:

Grundlagenarbeit, hastig kommuniziert,
Das Jahrbuch enthält wertvolle Analysen und die Aufarbeitung von wichtigem Datenmaterial. Zum Zeitpunkt der Lancierung Mitte August war im Web nur die Medienmitteilung vorhanden, die mit kernigen Sätzen die Gratiskultur als Ende der journalistischen Qualität verkündet. Wer sich differenziert mit dem Original auseinandersetzen wollte, stand erst mal vor einer dicken Paywall: 98 CHF plus Porto. Seit einigen Wochen ist das Material in vorbildlicher Weise elektronisch abrufbar. Professor Kurt Imhof und sein Team vom Forschungsbereich Öffentlichkeit und Gesellschaft fög der Universität Zürich kennen das Mediensystem und haben es für ihre PR-Arbeit genutzt. Wer ein derart angriffiges Communiqué versendet, darf in den folgenden Tagen keine differenzierte Gesamtanalysen erwarten – die auf der Mitteilung basierenden Kurzmeldungen verbreiteten sich rasant. Und sie nahmen weitgehend die Kernbotschaften des Pressetextes auf. Wer schnell was Gescheites schreiben muss, fragt Gescheite um eine Meinung – Karl Lüond war wenigstens ehrlich, als er seine persönliche Einschätzung mit der Wahrheit ergänzte: «Ich habe die Studie nicht gelesen, ich kenne sie nur aus den Medien» (Interview Tages-Anzeiger).

Das fög-Forscherteam hat die vier Informationsmedien Presse, Radio, Fernsehen und Online analysiert – repräsentativ für die Gesamtschweiz. Ausgewertet wurde das vierte Quartal 2009. Die berücksichtigten 46 Medientitel berichteten in diesen drei Monaten auf ihren Titelseiten und Aufmachern über 3000 verschiedene Kommunikationsereignisse. Als Gradmesser der Qualität sind vier Kriterien gesetzt: Vielfalt, Relevanz, Aktualität und Professionalität.

Vielfalt: Je bezahlter, desto breiter
Am stärksten gewichten die Schweizer Medien Politik und Human Interest, beide belegen rund einen Drittel der Schlagzeilen. Human Interest umfasst persönliche Geschichten, von Autogrammstunden bis Autounfällen. Der Sport erreicht nur 6 Prozent, Wirtschaft und Kultur je rund 15 Prozent der Berichterstattung.

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Je vielfältiger die Berichterstattung, desto höher die Qualität. Natürlich weicht der Themenmix in einzelnen Titeln vom Gesamtkuchen ab. Den vielfältigsten Mix zeigen Presse und Radio. Wobei die bezahlten Print-Titel und das öffentliche Radio breiter gefächert sind als Gratiszeitungen oder Privatradios. Der junge Online-Bereich positioniert sich nahe beim Fernsehen: Bei beiden erreichen Human Interest-Themen rund 40 Prozent des Inhalts – gegenüber den 31 Prozent Durchschnitt.

Relevanz: Alles viel zu persönlich
Wie misst man Relevanz? Die Forscher sagen: Wer das Ganze vor das Persönliche stellt, wer Gesamtsicht bietet, der ist relevant. Wer seine Geschichten vor allem an Personen aufhängt, bietet in dieser Betrachtung weniger Medienqualität. Diese Grafik zeigt den Prozentanteil der Hauptstories mit Personen im Fokus:

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Diese Sicht führt Privatfernsehen, Gratiszeitungen und Gratis-Online in den Rahmen des schlechten Boulevards: Die bernetblog-Grafik zieht diesen roten Strich um alle Medien, die knapp die Hälfte oder mehr Aufriss-Geschichten auf Personen münzen – von Wirtschaft über Politik bis Musik. Damit erhärten die Forscher eine alte Weisheit der Kommunikation: Schon Gott inszenierte die Medienmitteilung mit den zehn Geboten über Moses, samt Special Effects. Dass Online-Medien derart nah beim Boulevard liegen, hat bestimmt auch mit dem enormen Zeit- und Kostendruck zu tun: Wenn Nachrichten noch schneller geschaltet werden müssen, ersetzen Statements differenzierte Recherchen.

Aktualität und Professionalität: Zwei Klassen
Auch Aktualität wird im Jahrbuch schon beinahe missionarisch definiert: Wichtiger als schnelles Publizieren ist Einordnen von Ursache und Wirkung auf einer Zeitachse. So kann man das auch sehen – aber es entspricht in keiner Weise der aktuellen Leser- und Medienhaltung. Das hat das fög-Team selbst erlebt mit der Sofortberichterstattung über die Studie. Natürlich ist eine thematische Gesamtsicht «relevanter», bloss muss sie unter den heutigen Konkurrenzverhältnissen schneller erfolgen. Im Fazit schneiden Abo-Zeitungen, Sonntagszeitungen / Magazin und öffentliches Radio / TV erwartungsgemäss gut ab, schlecht wieder die Gratisangebote und Privatsender.

Die gleiche Zweiteilung ermittelt das Jahrbuch bezüglich Professionalität, wobei das Gesamtbild aufgrund «hoher Heterogenität der Mediengattungen im Berichterstattungsstil» nur bedingt aussagekräftig sei. Ein «kognitiv-normativer» Stil wird höher eingestuft als der «moralisch-emotionale».

Nachgefragte versus projizierte Qualität
Das Jahrbuch bringt eine fundierte Standortbestimmung. Interessant wird die langjährige Betrachtung bei einer jährlichen Fortsetzung. Natürlich ist es wie bei jeder Erhebung: Die Idee der Autoren prägt das Resultat. Mir ist die Betrachtung in einigen Passagen zu theoretisch und in den Kurztexten zu kämpferisch verdichtet.

Mein wichtigster Kritikpunkt: Bei der gewählten Qualitätsbetrachtung bleibt die Lesersicht aussen vor. Gratiszeitungen und Gratis-Online sind sehr erfolgreich. Forscher werden sagen: Qualität ist nicht das, was das Publikum nachfragt. Ich meine: Jede Gesellschaft hat die Medien, die sie nachfragt. Eine staatlich oder anderweitig finanzierte Steuerung des Angebots geht am Markt vorbei. Die Nachfrage kann sich in Richtung Qualität beeinflussen lassen durch entsprechende Angebote – und eine hohe Medienkompetenz der Leserinnen und Leser.

Weiterführend:
Beiträge zum Jahrbuch im Medienspiegel
Drei Artikel zu Qualität und NZZ
Online weitet Medienkonsum aus, Daten CH und USA
Mehr Dialog im Journalismus: Zeit Online