«Der Boulevard lebt!»

Peter Röthlisberger machte am Communication Summit 2011 klar, dass intelligent aufbereitete leichte Kost bei allen Schichten ankommt. Der Chefredaktor des Blick am Abend gab sich Mühe, den Kulturpessimisten auf dem Podium Paroli zu bieten. 

  

600’000 Leserinnen und Leser zählt der «Blick am Abend» gegenwärtig und gehört damit zu den erfolgreichen Neulancierungen der Schweizer Presselandschaft. Emotionen soll er wecken – das Motto des diesjährigen ComSum –, unterhalten, informieren. Das funktioniert offenbar bei einem urbanen, jungen, weiblichen Publikum, womit sich der BlaA abhebt von seinem zahlbaren Mutterblatt. Noch in diesem Jahr wird das Brombeer-farbene Blättchen den Zahl-Blick überrunden.  (Weiter zur Fotogalerie…)

Doch zu gut dürfe man auch nicht sein, sagte Röthlisberger. Sonst nehme der Pendler am Abend das Blatt mit nach Hause. Denn bei Gratiszeitungen zählt nicht die Auflage, sie liegt im Fall des BlaA bei rund 330’000 Exemplaren, sondern die Leserzahl pro Exemplar. So gebe sich die junge, dynamische und laut ihrem Chef auch weitgehend fröhliche Redaktion Mühe jeden Morgen bis zum Mittag ein Blatt zu kreieren, das auf dem Heimweg zum Mitnehmen lockt, aber dann in der S-Bahn liegen gelassen wird – für den nächsten Pendler.

Knapp 400 Zuhörerinnen und Zuhörer lockte der diesjährige Communication Summit in das Auditorium maximum der ETH Zürich, fast soviel wie beim Rekord im letzten Jahr. Das von ZPV und ZPRG veranstaltete Gipfeltreffen gehört damit zu den wichtigsten Branchenanlässen in Zürich. «Emotionalisieren wirs» lautet der Titel der Podiumsdiskussion, die auf Peter Röthlisbergers Eingangsreferat folgte. In der von Reto Lipp (SRF) geleiteten Runde diskutierten mit dem Ringier-Vertreter Altmeister Karl Lüönd, die Medienprofessorin Marlies Prinzing und PR-Berater Sacha Wigdorovits.

Für Lüönd, der einen «Brain Drain« vom Journalismus in die PR-Branche konstatierte, ist der heutige Boulevard ein von «Text-Ingenieuren» fabrizierter Teil der Unterhaltungsindustrie. Er stellte eine Rückbesinnung auf altbewährte Rezepte fest. Marlies Prinzing kritisierte hingegen den Verfall journalistischer Tugenden, der allerdings in allen Sparten, nicht nur im Boulevard zu beobachten sei. Ein «ethischer Kompass» sei nötige denn je. Das Publikum verliere immer mehr das Vertrauen in die Medien. Dennoch müssten Gefühle genügend Raum in den Medien bekommen, sagte die Professorin. Ein leichter, eingängiger Zugang zu den Themen sei wichtig und richtig: «Das Publikum will es so.»

Den Sittenverfall unter den Medienschaffenden beklagte auch Sacha Wigdorovits. Kaum einer mache sich heute noch die Mühe, zu recherchieren. Emotionen ohne Fundament bringe nichts. Der umtriebige Berater, der im Fall Hirschmann eine Klage gegen Michael Ringier und andere Verantwortliche in dessen Haus angestrengt hat, redete viel und laut – und trug gemeinsam mit Prinzing zur Emotionalisierung des Podiumsgesprächs bei. Röthlisberger, der sich dem Lamento um ihn herum durch langes Schweigen entzog, und Kari Lüönd dagegen blieben cool.

Schuld an der Schaffenskrise sei der fortschreitende Abbau in den Redaktionen, da waren sich die Kritiker einig. Wer kann, springe ab, so Lüönd. «Im Journalismus bringt man es weit, wenn man ihn rechtzeitig verlässt», meinte er. Bei ihm habe dies allerdings nicht funktioniert.  

Der Boulevard und seine Erfolgrezepte seien lebendiger denn je, konstatierte Röthlisberger. Und als Korrektiv stehe das Publikum bereit. «Uns wird genau auf die Finger gesehen», sagte er. Karl Lüönd wies denn auch darauf hin, dass Medien nicht im Labor getestet werden können. Vielmehr müssten sich die Produkte gnadenlos dem Markt stellen.

Genügend Gesprächsstoff für das ComSum-Publikum, das sich am anschliessenden Apéro Riche stärkte und die Gelegenheit zum Networking intensiv nutzte. Besonders lang blieben an diesem Abend die Macher des Blick am Abends, Röthlisberger und sein Vize, Michael Periccone, der neue Polit-Chef der Blick-Gruppe. Sie mussten am nächsten Morgen früh raus: Arbeitsbeginn bei der Pendlerzeitung ist um 6 Uhr.

Impressionen vom Communication Summit 2011 auf unserer Fotogalerie…

Nachtrag: Das ausführliche Interview mit Peter Röthlisberger auf persönlich.com

Nachtrag II: Eine Zusammenfassung der Aussagen hat Sonja Stieglbauer auf bernetblog.ch aufgelistet

Nachtrag III: Auch die Medienwoche hat das Thema des Abends aufgegriffen

  1. Mal generell zu diesem Abend: Herr Lüönd kann einem nur Leid tun, wenn er als alter Journalisten-Haudegen und heutiger Berater Blick und Ableger schön reden muss; Herr Röthlisberger muss ja seine Brombeer-Postille schönreden, hat aber mit seinem Vortrag irgendwie das Thema verfehlt; erfrischend war der Moderator Reto Lind und leider bekam Frau Marlies Prinzing als Medienprofessorin (wo eigentlich?) viel zu selten das Wort; am schlimmsten gerierte sich allerdings der PR-Berater Sacha Wigdorovits! Er hielt seine Zuhörer (immerhin Berufskollegen und/oder vom Fach) für noch blöder als das breite Publikum, denen er den Quatsch vom armen, unschuldigen Söhnchen zuvor verklickern wollte. Carl Hirschmann war fürs gandenlose Draufprügeln der Journaille ein gefundenes Fressen wie McDonald’s als eine seiner Bonsaimädels sich beschwerte, bloss hat wohl vorher darauf keiner die rechte Lust gehabt, schliesslich kriegt auch ein Journalist nur ungern eins in die Fresse…

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