Die plötzliche Liebe der Mächtigen zur Freiheit der Medien

Die plötzliche Liebe von Politikern zur Medienfreiheit nach dem Anschlag auf „Charlie Hebdo“ ist mit Vorsicht zu geniessen. In anderen Fällen ist den gleichen Politikern die Medienfreiheit egal.

Jean-Daniel Gerber in der Basler Zeitung vom 19. Mai 2006
Zitat von Jean-Daniel Gerber in der Basler Zeitung vom 19. Mai 2006, Bearbeitung: Ronnie Grob

In Paris gingen gestern nicht nur Hunderttausende von Bürgern auf die Strasse, sondern auch viele Top-Politiker, um an den Anschlag auf das französische Satiremagazin „Charlie Hebdo“ in Paris, der zwölf Opfer und elf Verletzte forderte, zu gedenken.

Es ist, als sei eine plötzliche Liebe der Mächtigen zur Freiheit der Medien entfacht. Doch Politiker sind gut darin, Situationen populistisch für sich auszunützen, deshalb sind viele der Bekenntnisse zur Pressefreiheit mit Vorsicht zu geniessen. Nach so einem Anschlag wird die Pressefreiheit mit viel Pathos und Drama hochgehalten – tatsächlich aber wird sie von den gleichen Personen in vielfältiger Weise eingeschränkt. Nick Lüthi hat hierzu einige Tweets von Daniel Wickham zusammengestellt. Ausserdem dient Terror auch immer als Anlass, die Freiheit der Bürger weiter einzuschränken.

Medienministerin Doris Leuthard geriet für diesen Tweet des UVEK in die Kritik der Medien:

Dabei ist die Haltung von Doris Leuthard gar nicht neu. Sie sagte in einem Interview mit der „Südostschweiz“ am 15. März 2006 auf die Frage „Hätten Sie die Mohammed-Karikaturen veröffentlicht?“ von Flurina Valsecchi:

Die meisten Karikaturen habe ich nicht als problematisch empfunden. Bei einzelnen Karikaturen habe ich aber verstanden, dass Menschen in ihren religiösen Gefühlen verletzt wurden. Ich finde es nicht mutig, sondern respektlos, solche Karikaturen abzudrucken. Hier ist die Grenze des Zumutbaren überschritten worden. Auch die Meinungsäusserungsfreiheit hat Grenzen.

Und ja, klar ist Satire kein Freipass und klar hat Meinungsäusserungsfreiheit Grenzen. Nur ist es nicht so, dass die eine Religion andere Grenzen hätte als die andere. Es muss niemand geschont, aber auch niemand in besonderem Masse beleidigt werden. Schon gar nicht sind geglückte oder missglückte Witze Anlass für Gewalt.

Interessant auch, was Jean-Daniel Gerber, Direktor des Staatssekretariats für Wirtschaft (Seco), der „Basler Zeitung“ am 19. Mai 2006 zu den Mohammed-Karikaturen sagte:

Nicht auszudenken der Schaden, wenn die umstrittenen Mohammed-Karikaturen in der Schweiz erschienen wären.

Es bleibt festzuhalten: Journalisten müssen veröffentlichen, was ihnen veröffentlichungswürdig erscheint. Und nicht, was Politiker und Staatsangestellte für genehm halten – das darf ihnen herzlich egal sein. Und Journalisten müssen sich bewusst sein, dass die Medienfreiheit die Grundlage für ihr Schaffen ist. Viele, die heute in den Chor einstimmen und „Je suis Charlie“ singen, haben gestern noch „Charlie Hebdo“ als einen unangenehmen Verwandten betrachtet, mit dem man lieber nichts zu tun hätte.

Siehe auch:

„Die grössten Heuchler von Paris“ (stern.de, Oliver Noffke)
„Wir kotzen auf all unsere neuen Freunde“ (20min.ch)
„#JeSuisCharlie ist kein Sonntagsspaziergang“ (medienwoche.ch, Carmen Epp)