«Heute» muss noch zulegen

Pendler-Blog

 Es erscheint die erste Abendzeitung seit Jahrzehnten, und 2 Wochen nach dem Start hatte ich noch immer kein Exemplar gesehen. Dabei bin ich zeitungssüchtiger Pendler, hatte mich auch redlich bemüht.
   Über den Hub Zürich pendle ich zwischen den europäischen Grossstädten. Bei jeder nachmittäglichen oder abendlichen Zwischenlandung zwischen dem 15. und 30. Mai, ich schwörs, lief ich wie blöd aus dem Transitbereich raus durch Grenz- und Zollkontrolle in den Publikumsbereich, um mir ein Exemplar zu sichern.
   Doch nichts.
   Ich guckte in der Ankunftshalle, zwischen den Terminals, bei den Läden, am Check-In-3, ja, ich stieg sogar auf den Bahnsteig runter, doch nirgends fand ich eine Verteilbox, geschweige denn einen Zeitungsjungen.
   Ich muss blind sein. Also total verschwitzt zurück zum Gate und weiterfliegen.
   Und da muss ich dann mit dem Boardmagazin vorlieb nehmen (knausrige Airlines), mit Köppels «Welt kompakt» (sparsame Airlines) oder mit einer NZZ (Erdölwucher zum Trotz Contenance bewahrende Airline), die mir jetzt am Abend natürlich ziemlich veraltet vorkommt – da sind die voraufgezeichneten Board-TV-News ja noch aktueller.
   Okay. Ende Mai bin ich dermassen neugierig, dass ich mich auf dem Flug von Istanbul nach Zürich (die Airline händigt mir auf meine Bitte nach einer Schweizer Zeitung wortlos die englisch-sprachige Version einer türkischen Morgenzeitung aus) entschliesse, mich nach der Landung von einem Taxi an die Tramendstation Seebach fahren zu lassen.
   Dummerweise haben wir Verspätung. Viel Hoffnung habe ich nicht, noch ein Exemplar in der Box zu finden. Denn wenn ich jeweils 12 Stunden früher in die Stadt reinkomme, hats ja auch keine «20Minuten» mehr.
   Der Taxi-Fahrer (ein Türke mit besserem Angebot als die meisten Airlines: «Hürriyet», «Tagblatt», «Blick» von gestern, aber kein «Heute») meint geschäftstüchtig, in Seebach gebe es sowas nicht, ich müsse schon mindestens zum Central.
   Okay, Mann.
   Auf der Fahrt erzählt er mir von Schutzgelderpressungen von Landsleuten, denen er lange ausgesetzt war, «aber heute lassen sie mich in Ruhe, weil sie dealen und viel mehr verdienen so.» Nach dem Milchbuck hats wegen Bauarbeiten an der Quaibrücke Stau, um diese Zeit!, da ists ja im Luftwarteraum für den Anflug auf ZRH noch entspannter, ich dreh fast durch, ich kann das Zeitungspapier förmlich riechen.
   Endlich: Central, grün-graue Box – und da sind ja noch jede Menge «Heute» drin. Ich schnapp mir wider jegliche Logik gleich 2, so erleichtert bin ich.
   Die Zeitung ist aber leicht, ist mein erster Gedanke. Also dünn, mein ich, da gibts noch Potenzial für Werbung. Von «20Minuten» bin ich mir das Doppelte gewohnt. (Der Fahrer will wissen, ob er mich zum Flughafen zurück bringen soll, aber ich streck ihm nur den Geldschein hin, um gleich hier und jetzt auf dem Bänkli zu lesen.)
   Der Aufmacher ist, da kann eine Morgenzeitung nie mithalten, zukunftsmässig aktuell: Es geht um einen Film, der in 3 Monaten Premiere hat (von anderer Seite vernehme ich tags darauf, dass Ringier mit dem Film «zusammenarbeitet», da bin ich ja dann mal auf die Rezension gespannt:-). Und sonst: Es beginnt mit «people», das gefällt mir persönlich. Es folgt «schweiz», da gehts um Terrorismus, Prostitution, Jugendschutz, Pornografie, Kiffen, das ist spannend. Es folgt «ausland», da gehts um den Bären und des Bären Bruder namens Lumpaz, «Heute» muss also auf Konzern machen und einen Namen verwenden, den höchstens «Blick»-Leser kennen, die ja nicht unbedingt «Heute»-Leser sind, aber ich schweif ab hier.
   Ich blättere jetzt etwas hastiger. Da ist «bilder von heute», Fotos find ich immer gut, nur die Bildunterschriften sind etwas gar reingezwängt und animieren so klein zum Lesen nicht. Den «sport» (mein Gott, ich habs, die schreiben alles klein, sogar die Autorennamen, nur in den Texten drin getrauen sie sich das noch nicht), den spar ich mir wie üblich, den «hintergrund» sowieso (doch die schräg ansteigende Titelzeile «Das Grundwasser steigt wieder» hab ich also aus dem Augenwinkel heraus bemerkt).
   Jetzt bin ich im, äh, in was ist das jetzt, gelandet, Layout und Typografie verwirren mich (vielleicht ists auch das ganze Zeitungsdurcheinander aus den Flugzeugen, das mich nicht klar sehen lässt), ist das jetzt die Publireportagen-Doppelseite, nein, es ist «nachtleben» und «schön». Schön, mal gucken, wo ich jetzt dann gleich mit meinem Carry-on-Rollköfferchen mein erstes «Heute»-Exemplar feiern geh. Die Party-Pics auf Seite 23 mit den Zebra-Kids sehen gut aus, leider steht nicht, wann das war, falls es von den Afterhours von heute früh stammt, sind die vielleicht immer noch dabei.
   Anyway.
   Ich bin bei «LIEBE»
(ah, das jetzt in Grossbuchstaben). Für Schwule gibts da nichts. Doch da! «Schwul? Blind? Wen kümmerts!» Tolle Meldung, auf jeden Fall stand die nicht in der Türkenzeitung.
   Der Höhepunkt professionell zum Schluss: «DRAUSSEN» bietet eine Wetterprognose, die im Gegensatz zu allen anderen Schweizer Zeitungen, nicht von gestern stammt – und ein geiles Bild, wie schlecht man sich für gutes Geld kleiden (und frisieren) kann. Das hat das Zeug, meine Lieblingsrubrik zu werden.
   Okay. Ich dreh mich zur Box. Da liegen immer noch ein paar Exemplare drin. «Heute» kann beim Absatz wohl noch ein bisschen zulegen, denke ich mir. Und steure mit meinen 2 Exemplaren und dem Köfferchen auf die nächste Bar zu für einen Absacker (mein nächster Flug ist erst nach Pfingsten, und ich kann mir für ein paar Tage jeden Abend um 16 Uhr «Heute» reinziehen). Ich bin ja ein totaler Verfechter von Abendzeitungen, und der wahre Grund, weshalb ich Taxi zum Dispenser genommen hab, ist, weil Zimmi in der auf den Flug mitgebrachten «Weltwoche» besorgt angetönt hat, dass «Heute» noch jugendlicher werden müsse, wenn es Erfolg haben soll.
   Ich teile seine Meinung (bestelle mir statt eines Biers auch gleich ein Red Bull).
   Mal gucken, was morgen auf die Newswelt einstürzt – und ob die Verschnaufpause über Pfingsten bei «Heute» noch zu gewissen Anpassungen führt.
   Persönlich freue ich mich auf jeden Fall, jetzt auch am Abend aktuelle Zeitungsnews zu kriegen – wenigstens wenn ich die Box am Flughafen noch finden werde. (sut.)