Interview mit dem «Fall Jeanmaire»-Autor: «Berichterstattung kam Wanderung im Nebel gleich.»

Mit «Fall Jeanmaire, Fall Schweiz – Wie Politik und Medien einen Jahrhundertverräter fabrizierten» legt Journalist Jürg Schoch («Tages-Anzeiger») ein umfassendes, präzis recherchiertes und spannendes Werk zum Verräter Jean-Louis Jeanmaire vor. Schoch zeigt auf, wie die Verantwortlichen das Augenmass verloren – und schont dabei die Medien nicht. Im Interview mit presseverein.ch erzählt Schoch, wie er Einblick in die geheimen Akten erhielt.

PV.CH: Weshalb hast du den Fall Jeanmaire als Thema gewählt?
Jürg Schoch: Die Aufarbeitung des Falls Jeanmaire hatte ich schon lange im Hinterkopf, eigentlich seit er aktuell war, d.h. vor 30 Jahren. Ich war damals Bundeshauskorrespondent und mit der irritierenden Aufgabe konfrontiert, ständig über ein Geschehnis zu schreiben, dessen Kern gar nicht bekannt war. Das Schreiben kam einer Wanderung im Nebel gleich, weil es schwierig war zu erkennen, was Fakt oder nur Gerücht war.

Weshalb hast du diese umfangreiche Einsicht in die Akten erhalten?
Das erste Einsichtsgesuch wurde, mit Verweis auf die 50-jährige Schutzfrist, abgelehnt. Das Bundesarchiv schlug mir dann vor, ein Gesuch um eine Sonderbewilligung einzureichen. Das tat ich, versehen mit ausführlicher Begründung. Die lautete, kurz zusammengefasst: Der Kalte Krieg ist vorbei, die Armee hat ein völlig anderes Antlitz, die Geheimnisse von damals sind nicht mehr relevant. Ein paar Monate später kam grünes Licht. Und grünes Licht kam auch bei allen andern Dossiers, auf die ich im Laufe der Recherche stiess. Einzig die Bundesanwaltschaft verweigerte mir eines, doch letztlich wurde meine Beschwerde gegen diese Verweigerung gut geheissen.

Wie hat sich deine Auffassung während der Recherche verändert?
Im Grund hat sich meine Auffassung nicht stark verändert. Ich versuchte, unvoreingenommen an die Materialien heranzutreten. Im übrigen war es mitunter amüsant, all die Fichen, Überwachungs- und Telefonabhörprotokolle zu lesen. Man betritt bei dieser Lektüre eine Welt, die einen staunen lässt.

Was hat dich am meisten erstaunt in den Akten?
Erstens, dass es offenbar einem Zufall zu verdanken war, dass die Schweiz überhaupt den «Tipp» der CIA bekam. Die US-Abwehr war schon seit einigen Jahren im Besitz von Unterlagen, laut denen ein Schweizer Offizier mit dem Codenamen Mur Verbindungen zu den Sowjets pflegte. Nur interessierte das in den USA zunächst niemanden. Erstaunlich war auch, auf welch fragiler Basis die Festnahme und die ersten Verhöre erfolgten. Hätte Jeanmaire kaltblütig alles geleugnet, wären die Untersuchungsorgane in eine fatale Lage geraten.

Was ist die Kernaussage deines Buchs?
Viele so genannte Verantwortungsträger haben das Augenmass verloren. An erster Stelle Justizminister Kurt Furgler, der vor dem Parlament falsche, jedenfalls unpräzise Angaben gemacht hatte. Aber auch das Gericht, dessen Urteil vollumfänglich dem Vorurteil entsprach, das Politiker, Medien und Stammtischexperten zuvor gefällt hatten. Der Prozess war geheim – er konnte nicht fair sein.

Wie kam es, dass einer, der sich nur herausreden wollte, sich dermassen selbst belasten konnte?
Jeanmaire hatte ein grosses Geltungsbedürfnis, er war naiv, vor allem aber ausserordentlich redselig. Interessant ist, dass seine Frau in den ersten Verhören viel «taktischer» reagierte als ihr Mann, der unzählige taktische Kurse besucht hatte. Jeanmaire war ein Gefühlsmensch, der unter dem, was er getan hatte, auch litt – und sich erleichtern wollte.

Wie war es möglich, dass Justiz (und Medien) damals dermassen einem Hype aufgesessen sind?
Das lag am Zeitgeist. Die bürgerliche Schweiz war damals komplett auf die Sowjetunion fixiert. Diese Fixiertheit verunmöglichte einen nüchternen Blick auf das, was effektiv vorgefallen war. Der Verrat als solcher war nicht enorm. Enorm war jedoch, was er auslöste – bis hin zur Forderung nach der Todesstrafe. In der Reaktion spiegelte sich eine ziemlich kopflose, von unkontrollierten Emotionen beherrschte Schweiz.

«Fall Jeanmaire, Fall Schweiz – Wie Politik und Medien einen Jahrhundertverräter fabrizierten», Verlag «hier+jetzt» Baden. (sut.)