«Man muss ausprobieren, wenn man gewinnen will»

Simon Jacoby macht sich mit seinem Online-Magazin «tsüri.ch» selbständig. Er wagt den Schritt mit Überzeugung, aber auch mit Respekt vor dem Risiko.

Sihlquai 125, Zürich. Hier pulsiert alternative Kultur. Die «Autonome Schule Zürich» hat sich eingemietet – ebenso die «Photobastei». Im ersten Stock residiert das Online-Magazin «tsüri.ch». Simon Jacoby braust mit dem Fahrrad vor den Eingang. Blitzschnell schliesst er sein Velo ab und zündet sich eine zerknüllte Zigarette an. Über dem Eingang steht «Happiness Eternity» in den Sandstein eingemeisselt.

Die Zeichen stehen gut für den 27-Jährigen. 2015 gründete er «tsüri.ch» aus einem eigenen Bedürfnis. «Ich habe immer wieder Geschichten gehört und war überzeugt, dass irgendjemand darüber geschrieben hat. Doch das war nicht der Fall.» Das Projekt war auf zwei Jahre befristet. Doch seine Erwartungen wurden übertroffen, die Marktlücke grösser als angenommen und die Resonanz überwältigend: Nach einer Woche hatte die Website ihr Monatsziel an Besuchern erreicht.

Deshalb macht sich Jacoby nun selbständig und verfolgt einen ganz eigenen Ansatz von Lokaljournalismus. «Die klassische Objektivität gibt es nicht. Wir wollen unsere Positionen nicht verschleiern und deklarieren sie im Sinne der Transparenz und Glaubwürdigkeit», sagt der junge Medienunternehmer, der den Weg in den Journalismus eher zufällig fand. Als SP-Gemeinderat in Adliswil begann er über politische Themen zu bloggen, schrieb für eine Gewerkschaftszeitung, gründete «dieperspektive», ein Magazin für User-generated content. Dann war er Teil der Redaktion von «watson», bis er im Juni 2016 gekündigt hat. Er will die ganze Energie in sein Projekt stecken.

Die «Neue Zürcher Zeitung» beschrieb Jacoby als «arrogant, aber erfolgreich». Jacoby würde sich – wie kaum jemand – so bezeichnen. «Aber der Erfolg gibt mir schon recht. Ich finde es gut, wenn jemand hinstehen und sagen kann: Das ist mir geglückt.» Er selbst sieht sich als bescheidene, zurückhaltende Person. Trotzdem sei die Rolle als Chefredaktor kein Problem. Er pflegt in seiner Redaktion eine offene Kultur. «Tsüri» sei mehr ein Kollektiv, dessen Fäden bei ihm zusammenlaufen.

Jetzt muss das ruhige Gemüt ein Unternehmen am Leben erhalten. Alun Meyerhans, bekannt geworden durch die inszenierte «Gokart-Gang», arbeitet als Geschäftsführer, Jacoby waltet als Kopf der Redaktion. Über ein Crowdfunding will «tsüri.ch» Leserinnen und Leser an sich binden und den laufenden Betrieb finanzieren.
Dass hinter dem Magazin die Tsüri AG mit einem Aktienkapital von über 100’000 Franken steht, realisiert kaum jemand. Es klingt nach einem Haufen Geld, Jacoby hingegen relativiert: «Unternehmerisch gesehen ist das sein Klacks. Wir arbeiten an einer neuen Website, das ist enorm kostenintensiv. Nun hat sich noch eine Stiftung zurückgezogen, die uns dabei unterstützen wollte. Von den 100’000 sind für Alun und mich zwei Monatslöhne übrig. Der Rest ist weg.»

Es ist kein ein leichter Weg, den Jacoby mit seinem Unternehmen geht. Auch wenn er sich der privilegierten Lage bewusst ist, dass er durch einen Erbvorbezug die AG zu einem Grossteil mitfinanzieren konnte, ist damit noch lange nichts geschafft. «Tsüri» mag hip und frech erscheinen und Jacoby vermarktet dieses Bild mit grossem Selbstvertrauen. Zweifel gab und gibt es dennoch: «Ich habe mir lange überlegt, ob ich diesen Schritt wagen soll. Meistens bin ich optimistisch.» Jacoby lehnt sich im Bürostuhl zurück und fährt sich über den Dreitagebart. «Es gibt Momente, in denen ich mich frage: ‹Shit, was haben wir jetzt gemacht. Etwa mit dem medienkritischen Artikel über das System 20 Minuten. Ich finde die Thematik wichtig und stehe zu meiner Meinung. Aber man lehnt sich aus dem Fenster, ist laut und muss auch einstecken können.»

Die Momente des Zweifels sind kurz. Die Anstrengung ist weit grösser: «Ich muss immer dastehen, es braucht immer Kraft. Die ganze Zeit kommen Entscheidungen auf einen zu. Das ist nicht immer leicht.» Die Energie zieht Jacoby aus seiner Überzeugung, dass es ein junges Stadtmagazin für Zürich braucht.

«Es wär’ scheisse, wenn es mit Tsüri nicht klappen würde, aber kein Weltuntergang. Wir wussten, dass wir ein riesiges Risiko eingehen. Statistisch gesehen stehen die Chancen bei zehn Prozent, dass ein Startup zwei Jahre überlebt. Aber: Man muss ausprobieren, wenn man gewinnen will.»

«Tsüri.ch» ist trotzdem kein Schuss ins Blaue, in der Hoffnung, die Nadel im Heuhaufen zu treffen. Jacoby überlegt sich alles genau. Wie reagieren die Leute auf die Aktiengesellschaft? Wie reagieren sie auf den Erbvorbezug? Und stets hat er ein stimmiges Argument im Ärmel. Er ist einer der «jungen Wilden» der Medienbranche, der sich seine Vogelfreiheit nimmt und bürokratische Aufgaben von Vorstandssitzungen bis zur Abrechnung der Mehrwertsteuer aufbürdet. Wem will er etwas beweisen? Jacoby schaut zur Decke und überlegt lange. «Hauptsächlich mir selbst», meint er zögerlich. «Ich will meine Geschichten erzählen und davon leben können. Vielleicht habe ich einen gewissen Geltungsdrang, wie vermutlich jeder, der in der Öffentlichkeit wahrnehmbar ist.»

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