Von der «Basler Zeitung» bis zum «St. Galler Tagblatt» haben es alle ungeprüft aus dem Internet kopiert. Sogar Roger de Weck ist drauf reingefallen. Nun nennen sie es «Tucholsky-Schwindel». Mit Schwindel hat es aber wenig zu tun, dafür viel mit modernem Journalismus. Die Story der neusten Zeitungs-Ente.
Unter dem Titel «Höhere Finanzmathematik» haben in den letzten Wochen verschiedene deutschsprachige Zeitungen ein Gedicht abgedruckt. Es stamme vom berühmten Journalisten und Dichter Kurt Tucholsky (1890-1935), und der habe schon vor über 75 Jahren die Tücken der Geldwirtschaft begriffen und die heutige Finanzkrise vorausgesehen. Sogar Ex-Tagi- und «Zeit»-Chefredaktor Roger de Weck hat die angeblichen Tucholsky-Reime im RBB zitiert.
Dass Tucholsky 1930 schon von Derivaten und Leerverkäufen gewusst haben sollte, hat keinen der Journalisten stutzig gemacht. Mittels copy & paste haben sie es alle aus dem Internet geholt. Lange her schien da die Lektion Nr. 1 in der Journalistenschule: «Übernehme keine Meldung ungeprüft, schon gar nicht aus dem Internet.»
In den klein aufgemachten Berichtigungen ein paar Tage später fanden sich dann Titel wie «Lug & Trug» oder «Tucholsky-Schwindel». Mit Schwindel hat die neuste Medien-Ente indess nichts zu tun, mehr mit Schludrigkeit. Wie die Tucholsky-Gesellschaft mitteilt, hat ein Österreicher das Gedicht im September geschrieben. Jemand hat es ins Internet gestellt und darunter noch eins von Tucholsky gesetzt. Ein hastiger Internet-User hat dann das erste Gedicht in seine Online-Kommentarspalte gestellt und nicht gemerkt, dass nur das zweite von Tucholsky stammt. Den Rest erklärt copy & paste.
Auch diese Meldung von presseverein.ch, so muss man fairerweise anmerken, wurde mit wenig Prüfaufwand aus Print- und Webquellen erstellt. Wer es genau wissen will, liest die «Sudelblog»-Meldung von Tucholsky-Experte Friedhelm Greis («Aus Teutschland Deutschland machen», Lukas-Verlag Berlin, 2008). (pv.ch)