Vox populi

Die Leserschaft von Tagi und NZZ empört sich über den Abbau bei den Redaktionen. Weil ihre Reaktionen in den Leserbriefspalten so schnell zu Altpapier werden, dokumentieren wir hier den publizierten Unmut.

TA-Leserinnen und -Leser protestieren gegen Stellenabbau:

„Wo bleibt die Verantwortung? Bei allem Verständnis für die Bemühungen von Tamedia, die hohe Wirtschaftlichkeit ihres Konzerns aufrechtzuerhalten, verstehe ich nicht, dass so viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, auch solche, die wegen ihres Alters kaum die Chance haben, eine neue Stelle in den Printmedien zu finden, entlassen werden. Wo bleibt die Verantwortung von Tamedia gegenüber langjährigen, fachlich hervorragenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern?
Nicolas Suter, Zürich

Was ist das für eine Strategie? Eine Zeitung, die jahrzehntelang für anspruchsvollen Journalismus stand, unbequeme Recherchen, erhellenden Hintergrund und beeindruckende Unabhängigkeit nicht nur auf ihre Fahne schrieb, sondern diese Ansprüche mit ausgezeichneten Journalisten immer wieder konkret realisierte, diese Zeitung schlittert je länger, je mehr in einen populistischen Mainstream, der dem publizistischen Einheitsbrei immer näher kommt. Warum entlässt man hochqualifizierte Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? Was ist das für eine Strategie?
Rolf Käppeli, Uetikon

Die besten SchreiberInnen. Tröpfchenweise sickert in diesen Tagen durch, dass über 80 Redaktorinnen und Redaktoren des «Tages-Anzeigers» ihren Job verlieren werden. Es sind Menschen, die ich zwar nicht persönlich kenne, deren Namen, Bilder und Schreibe mir jedoch in den vielen Jahren, seit ich den Tagi abonniert habe, ein Begriff sind. Die Redaktions- und die Verlagsleitung werden nicht müde zu deklamieren, dass der Tagi trotz dieses massiven Aderlasses «noch hochwertiger» werden solle. Das ist Zynismus pur: Eine Reihe der besten Schreiberinnen und Schreiber ist gekündigt, das Auslandkorrespondenten-Netz wird verkleinert, wer weiss, was noch alles kommt – so dumm, dass wir glauben, damit werde die Zeitung besser, sind wir Leserinnen und Leser ganz bestimmt nicht. Ich werde die weitere Entwicklung der Zeitung genau beobachten und gegebenenfalls mein Abonnement kündigen.
Trix Angst, Zürich

Mit dem Zeigefinger in die Wunden. Der «Tages-Anzeiger» war bisher bekannt, dass er mit seinem Zeigefinger sehr deutlich auf ungerechtes Handeln aufmerksam machte. Wird er das auch noch in Zukunft noch tun können? Ohne Heuchelei und glaubwürdig kann dies wohl nur geschehen, wenn der TA bereit ist, seine Gründe der Massenentlassung schonungslos und ehrlich auf den Tisch zu legen. 
Marie-Louise Schmid & Jürg Schläpfer, Zürich

Glaubwürdigkeit steht auf dem Spiel. Die Forderung nach mehr sozialer Verantwortung in Wirtschaft und Unternehmertum und die Verurteilung ausschliesslicher Profitmaximierung ist eines der Kernthemen der Berichterstattung des Zürcher «Tages-Anzeiger». Wenn nun die eigene Geschäftsleitung das Gegenteil dessen praktiziert, was die Journalisten den Lesern fast täglich vorsetzen, dann steht die Glaubwürdigkeit ihrer Zeitung auf dem Spiel. Glaubwürdigkeit aber ist ein wesentliches Element für den nachhaltigen Erfolg eines Medienprodukts. Ein Unternehmen, das mit forcierter Expansionspolitik vor allem hohe Dividendenerträge anstrebt und dem wichtigsten Kapital einer Zeitung – ihren engagierten Journalisten – keine Sorge trägt, praktiziert eine Unternehmensstrategie, die ins Abseits führen muss. Es ginge nun darum, den schönen Worten der Vergangenheit auch entsprechende Taten folgen zu lassen und den Forderungen der Redaktion des «Tages-Anzeigers» nach einer vorausschauenden Personalpolitik nachzukommen.
Roland Schaub, Zürich

Zerfall der Zeitungskultur. Als langjährige Abonnentin des «Tages-Anzeigers» bin ich über die Kündigungswelle bei Tamedia entsetzt. Den Aktionären wurden noch vor wenigen Tagen 42 Millionen Franken Dividende ausbezahlt. Auch für den Bau eines fünfstöckigen Neubaus an der Werdstrasse durch einen japanischen Stararchitekten und den Kauf der Lausanner Edipresse ist offenbar genügend Geld vorhanden. Ein reiches Haus ist für die Massenentlassungen verantwortlich! Mit dieser Abbaustrategie in Zeiten der Rezession verletzt Tamedia die Glaubwürdigkeit des «Tages-Anzeigers» – der andere Unternehmen zu kritisieren pflegt, wenn sie ihre Geschäfte nur auf kurzfristigen Gewinn ausrichten –, brockt der grössten abonnierten Zeitung der Schweiz den Rückzug all jener Abonnenten ein, die sich das nicht gefallen lassen werden, und leistet damit paradoxerweise selber einen namhaften Beitrag zum Zerfall der Zeitungskultur.
Iren Baumann, Zürich

Wer liest das Kurzfutter? Der brutale Schnitt bei den Redaktionen von «Tages-Anzeiger» und «Bund» lassen aufhorchen. Glaubt der Tamedia-Konzern nicht mehr an die eigenen Medien? Wer soll denn in Zukunft das drohende Kurzfutter lesen? Und noch etwas: Bis heute habe ich nicht erfahren, was sich der Konzern diese Desinvestition ins eigene Personal eigentlich kosten lässt. Wie viele Mittel sind zur sozialen Abfederung dieser Massnahmen bereitgestellt worden? Wenn nur noch die treuen Abonnenten ein soziales Gewissen verspüren – dann gute Nacht, Tagi.
Ueli Stilli, Zürich

Mitarbeiter müssen ausbaden . . . Es hat mich entsetzt, als ich las, dass Tamedia die beiden Präsidenten der Personalkommissionen in Bern beim «Bund» und in Zürich beim «Tages-Anzeiger» in die Wüste schickt. Zwei Männer, die während 20 beziehungsweise 30 Jahren zum Erfolg der beiden Blätter beigetragen haben, die sich für das gebeutelte Personal wehrten, die sich exponierten, genauso wie sich die Zeitung exponiert, wenn sie Unheil ahnt, wenn sie Ungerechtigkeiten zu Recht und in meinem Leserinteresse geisselt.

Wer hat das Verlagshaus Tamedia in die Irre geführt, wer hat nicht erkannt, dass die jetzige Krise nicht konjunkturelle, sondern strukturelle Gründe hat? Wer hat das Regionalkonzept mit Eifer und grossen Worten eingeführt, wer ist zum Kampf gegen die Landzeitungen im Kanton Zürich angetreten und ist gescheitert, wer hat die Regionalredaktionen aufgebaut, hat 70 Stellen geschaffen, die jetzt in der Zahl allesamt vom Abbau bedroht sind? Wer ist auf die grosse Einkaufstour gegangen, hat sich in der Ostschweiz bedient, wer hat sich die Espace-Medien in Bern einverleibt und gerade kürzlich auch noch die Edipresse in der Westschweiz geschnappt? Zu den strukturellen Problemen in Zürich posteten die Einkäufer von der Werdstrasse auch noch die gleichen Probleme in Bern und Lausanne hinzu; sie machten sie damit schlicht und einfach dreimal grösser. Wo war der strategische Weitblick, den der «Tages-Anzeiger» tagtäglich in seinen Spalten bei den andern in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft reklamiert? Nirgends.

Es war Martin Kall, der Umtriebige und Wachstumshungrige, der nicht lassen konnte, was in die Falle führte. Und wo waren die Kontrolleure, wo war der Aufsichtsrat? Waren auch sie vom Wachstum geblendet?

Eines ist sicher. Alle sitzen noch bequem in ihren Sesseln. Noch feuern sie, wen sie feuern können: die Mitarbeiter. Die entlassenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben mit ihrem Stellenverlust dazu beizutragen, dass die blinden Chefs herausfinden aus der Falle, in das sie das Unternehmen führten. Entsetzlich.
Anton Schaller, Zürich

Tragen Sie unserem Tagi Sorge! Es gibt ja noch Gratiszeitungen. Wenn sich Tamedia nur nicht ins eigene Fleisch schneidet! Ich kann mir vorstellen, dass noch mehr Abonnenten abspringen; die Massenentlassung kann sich auf die Qualität der Zeitung auswirken, und zudem wird auch noch am Umfang (nur noch vier Bünde) gespart. Es gibt dann immer weniger Gründe, die Zeitung zu abonnieren oder am Kiosk zu kaufen, und man kann sich gerade so gut gratis mit den Kurzfutterblättern bedienen. Tragen Sie doch bitte unserem Tagi Sorge! Vor ein paar Jahren wurden erst die TA-Split-Regionalausgaben eingeführt, und damit hat man etliche Regionalzeitungen gefährdet. . . Und jetzt werden diese gebündelten Regionalinformationen wieder abgeschafft. Da wird auch etwas fehlen.
Esther Faes, Gattikon

Ist das fair? Der Sprecher von Tamedia meint zu den Massenkündigungen beim Tagi, man strebe eine faire Vereinbarung an. Dies tönt nicht glaubwürdig. Ist es fair, Massenentlassungen auf Vorrat zu machen, nur um den Gewinn der Eigentümer zu vergrössern? Ist es fair, wenn das Management das Geld für unnötige Bauten mit vollen Händen ausgibt, anstatt in guten Zeiten Rückstellungen zu machen um Arbeitsplätze zu sichern? Jeden Morgen den «Tages-Anzeiger» zu lesen, ist ein Genuss dank den guten Artikeln in der Zeitung. Ich hoffe, dass die Geschäftsleitung mir diesen Genuss nicht wegnimmt!
Susi Gut, Zürich “

Und auch in der NZZ nimmt der Leser kein Blatt vor den Mund:

„Kleinere Redaktionen, mehr heisse Luft. Mitarbeiterentlassungen erreichen jetzt auch die Redaktionen von Tageszeitungen. Wer glaubt, die Ausdünnung der Redaktionen werde, wie seitens der Verlage behauptet, durch verstärkte Eigenleistung kompensiert, wird sich getäuscht sehen. Auch bis anhin personell gut dotierte Redaktionen lassen seit Jahren auf mehr Eigenleistungen warten. Für viele Papierleser aber kein Grund, die Zeitung nicht mehr zu kaufen. Ein Grund dürfte aber der Redaktionstrend zur Boulevardisierung sein. Dies alles auf Kosten der bewusst lesenden Zeitungsleser. Die im NZZ-Artikel (22. 05. 09) angesprochene «heisse Luft, die inskünftig die Öffentlichkeit erwartet», wird längst praktiziert. So war der Leser bereits vor dem Stellenabbau mit dem Wissen konfrontiert, dass die Artikel halbwahr sind. Aber stets auch im Ungewissen, welche Hälfte denn nun eigentlich stimmt und welche nicht. Konsequenz: Verlust des Vertrauens in die gedruckten Medien im Auflagenschwund.
Manfred V. Urech, Schenkon“

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