Die Krise als Dauerzustand

Am Swiss Media Forum in Luzern klopfen sich die Manager der Medienhäuser auf die Schultern – und blicken doch ratlos nach vorn. Was läuft wirklich in unserer Industrie? Ein Helikopterflug über die schweizerische Medienlandschaft – von Karl Lüönd.  

Alle reden von Krise – darum haben wir eine! Ich kann das ewige Krisengerede nicht mehr hören. Nicht weil die Verlage im Jahr 2010 wieder ausgezeichnete Zahlen geschrieben haben (wie die in diesen Wochen veröffentlichten Abschlüsse beweisen.) Hier wirken sich vor allem die Einsparungen aus, nachdem sie 2009 vor allem Anfangskosten verursacht haben. Es sind nur in wenigen Fällen Marktanteilsgewinne, die die Ergebnisse verbessert haben. Bei den grossen Verlagen zeigen sich ausserdem Konsolidierungsgewinne oder Synergieeffekte – nicht so sehr bei den Redaktionen, vielmehr beim Einkauf, bei allen IT-Fächern und bei den Marketingkosten (Call Centers).

Die Krise hat es gegeben – sie dürfte zum Dauerzustand werden. Aber sie zeigt sich – und das ist der Grund für meinen Ärger – viel differenzierter, als sie von unserer Branche dargestellt wird. Wir haben es mit folgender Grosswetterlage zu tun:

• Prinzipiell ist unser Geschäft intakt und vital – wenn wir es richtig auffassen. Wir sind nicht in der holzverarbeitenden Industrie tätig, wie Willy Brandt gespottet hat, sondern in der Verarbeitung von Inhalten. Wir sind nicht auf bestimmte Medien fixiert (z.B. auf den Druck), unser Kerngeschäft funktioniert immer klarer nur auf mehreren Kanälen. Warum bin ich so optimistisch? Weil die Welt immer komplizierter wird und weil die Menschen in allen Branchen zum Röhrenblick erzogen werden. Zugleich erleben sie, dass sie die Welt, die Menschen, die Gesellschaft, die Politik verstehen (wenn Sie wollen: «vernetzt denken und handeln») müssen – also brauchen sie Panorama-Ansichten, wie die Medien sie anbieten. Wenn die Atompolitik auf den Prüfstand kommt, wenn in Libyen Krieg ist, ist Welterklärung gefragt. Nichts spricht dafür, dass das nachlässt.

• Seit Jahr und Tag gehen die Auflagenzahlen und – bedeutend weniger dramatisch – die Leserzahlen zurück, aber auf bemerkenswert hohem Niveau. Wir operieren eben in gesättigten, überreifen Märkten, es herrscht Verdrängungswettbewerb (wie immer mit der akuten Gefahr, dass dieser über die Preise und Konditionen ausgetragen wird.) Dennoch ist die Geschäftsgrundlage, d.h. das Interesse der Endverbraucher/LeserInnen intakt. Das wird so bleiben, vorausgesetzt, es gelingt uns, unsere Leitwährung zu schützen, d.h. die publizistische Glaubwürdigkeit. Damit ist hohe Integrität und kompromisslose Qualitätspolitik gefordert.

• Die Krise hat sich vor allem bei den grossen und mittleren Tageszeitungen ausgetobt. Gefährlich ist es dort, wo man Kosten hat wie die Grossen und Erträge wie die Kleinen. Fixkosten sind das Stichwort! Kooperation ist die gegebene Ausweichstrategie. Wenn das Ziel ist, ein bestimmtes Blatt müsse Alleinzeitung bleiben, hilft nur Konzentration auf die Kernkompetenzen (Lokales/Regionales inkl. Sport, Dienstleistung verknüpft mit digitalen Medien). Andere Erfolgsmodelle sieht man auch, vor allem Nischenstrategien (Lokaltitel, Fach- und Spezialzeitschriften haben ein viel ruhigeres und ausgeglicheneres Geschäft.)

• The future is local. Davon bin ich fest überzeugt. Ich gehe von der Erfahrungstatsache aus, dass neue Medien kommen können, so viele denn wollen – aber von den alten verschwindet keines. Bloss zwingen die neuen Medien die alten, sich anzupassen und neue Rollen zu übernehmen (Beispiele: Radio, Weltwoche). Jetzt sehen wir das Geschäft deutlich auseinandergehen. Breaking News werden eine Beute der Online- und den elektronischen Medien, den Lokalmedien mit ihren vergleichsweise langsamen (Druck-)Technologien bleiben drei Kernbereiche: Dienstleistung/Alltagsnutzen, Vertiefung, Lokalisierung. Interessant ist jetzt zu sehen, dass sich im Schatten der grossen, allgemein diskutierten Entwicklung ein neuer Boom der Lokalmedien anbahnt. Durch die Rationalisierungen und Konsolidierungen (z.B. Thurgauer Zeitung, Neue Luzerner Zeitung) sind in vielen Kleinregionen Bedarfslücken für die lokale Information entstanden. Und nun werden überall im Land – z.T. in Selbsthilfe, z.T. in Selbstausbeutung – Lokalblätter gegründet: «Regi die Neue» im Hinterthurgau, neue Titel im Frutigland, im Prättigau, in Obwalden/Nidwalden… Wenn es gelingt, die Fixkosten zu decken, öffnen sich hier neue Märkte, nicht zuletzt für den lokalen Anzeigenteil, denn das Gewerbe kann sich die Zwangs-Kombis der Grossverlage immer weniger leisten.

• Die Krise hat uns auch ein paar Fehlentwicklungen gezeigt, die jetzt zu korrigieren sind.

–         Der Gratis-Boom ist vorbei. Kein Unternehmer kann seine Ware verschenken.

–         Wir sind durch die Digitalisierung der Vorstufe mehr oder weniger unvorbereitet in neue Berufskulturen hinein gerutscht. Viele Redaktionen sind mit der grundlegend neuen Aufgabe nicht klar gekommen: sich nicht nur um Inhalte, sondern auch um die Form kümmern zu müssen. Hier herrscht ein hoher Nachholbedarf: Berufsbilder definieren, Ausbildungsgänge vereinheitlichen, Qualifikationen erhöhen (auch im Interesse der Journalisten, die damit arbeitsmarktfähiger werden).

–         Schluss mit der Wohlstandsverwahrlosung! Betriebswirtschaft in die Redaktionen! Wir sind in einer Industrie, und jede Industrie muss ihre Prozesse optimieren, d.h. mehr und besser produzieren in kürzerer Zeit und mit reduzierten Kosten. Folglich sind Führung und Kontrolle in Redaktionen weder unanständig noch gegen die Pressefreiheit gerichtet, sondern die beste Arbeitsplatzgarantie. Mir ist es in über 40 Berufsjahren  immer am besten gegangen, wenn die Zeitung rentiert hat.

–         Quersubventionierung ist immer problematisch – aber die Zeitungen haben jahrzehntelang nach der 70:30-Formel gelebt: 70 % der Einnahmen stammten aus dem Anzeigenmarkt, nur 30 % aus dem für den Gesamterfolg entscheidenden Lesermarkt. Solange die Zeitungswerbung Jahr für Jahr um > 10 % wuchs (ca. 1960-1990), war das scheinbar kein Problem. Jetzt sind wir gezwungen, von den Lesern mehr Geld zu verlangen.

–         Wertnachweis! Über kurz oder lang werden wir das Problem haben, unseren Kunden zu erklären, warum sie 500 Franken pro Jahr für eine regionale Tageszeitung wie die Schaffhauser Nachrichten ausgeben sollen. Das geht nur, indem sich eine Zeitung unentbehrlich macht: «must have», nicht «nice to have». Tägliche Leistung in hoher Qualität, die woanders nicht zu finden ist.

–         Gegen die Käuflichkeit der Inhalte. Was Ringier im Augenblick als erklärte Konzernpolitik in aller Öffentlichkeit vorführt, ist extrem gefährlich. In diesem Konzept («Verlängerung der Wertschöpfungskette») sinkt Journalismus herab auf die gleiche Stufe wie die Musik im Warenhaus zum Animiermedium für den Konsum von Filmen, CDs, Tickets, Betty Bossi-Geräten usw.

–         Brain Drain aus den Redaktionen in die Deutungsindustrie. Immer mehr Kolleginnen und Kollegen verlieren das Vertrauen in den Journalismus und wechseln die Seiten. Hoffentlich geben sie sich rechtzeitig darüber Rechenschaft, dass Journalismus und interessengebundene Medienarbeit zwei verschiedene Berufe sind!

Welche Trends sehen wir?

• Multimedialität: Die vielfältigen und staunenswerten technischen Möglichkeiten werden genutzt – im gleichen Mass und in dem Takt, da sich das Leben ändert. Wir sind mobiler geworden, wir pendeln. Es ist nicht mehr möglich, ein Kommunikationsziel nur mit einem einzigen Medium zu erreichen, vor allem nicht beim aktiven Teil der Bevölkerung (z.B. Pendler Schaffhausen-Zürich sind 12 Stunden lang für die gedruckte SN-Ausgabe nicht erreichbar, so gut diese auch sein mag.) Daraus ergibt sich das, was mit dem Modebegriff «cross media» umschrieben wird: die Kombination mehrerer Medien mit ihren jeweiligen Stärken zum Zweck der Verlängerung von Wertschöpfungsketten (Betty Bossi, Ringiers Good News, Ticket Corner usw.) Damit geht der Trend nach Medien-Dachmarken einher («Cash», Spiegel, Bild, Blick, NZZ usw.) Unter diesen Dächern haben immer mehr Angebote Platz, die als Alternativ-Finanzquellen getestet werden, nachdem es mit dem klassischen Inseratengeschäft nicht mehr so gut funktioniert. Sogar die NZZ vermarktet Abmagerungskuren. Für die Journalisten bedeutet das: fit sein nicht nur in der Inhaltsverarbeitung, sondern auch in Programmen und technischen Fertigkeiten.

• Segmentierung nach Nutzungssituationen: Die beiden trotz Krise erfolgreichsten neuen Gattungen im Schweizer Medienwesen – die Pendlerzeitungen und die Sonntagszeitungen – sind Kopfgeburten des Marketings. Beide bewirtschaften spezifische Lesesituationen. In der täglichen Reizüberflutung sind Fokussierung und Spezialisierung gefragt.  Darum sind spezialisierte und fokussierte Produkte – Lokalzeitungen, aber auch Spezial- und Fachzeitschriften – viel besser durch die Krise gekommen als Medien mit universellen Inhalten.

• Parallelmedien: Unsere Medienwelt wird immer noch dominiert von Marken, die ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert und früher hatten und die ursprünglich für eine politisch-weltanschauliche Position standen (NZZ, St. Galler Tagblatt usw.) Seit 1893 – Erfindung des Tages-Anzeigers – ist die zweite Gruppe erstarkt: kommerzielle, vom Anzeigengeschäft getriebene Medien (prominente Beispiele: Beobachter, Ringier). Mit der Segmentierung des modernen Lebens und der Suche der Werbetreibenden nach den genau definierten Zielgruppen hat eine dritte Gattung grosse Erfolge gefeiert, freilich diskret und im Windschatten der Grossen: die Fach- und Spezialzeitschriften. Immer stärker wird jetzt eine vierte Gruppe: Grosse Werbetreibende sagen sich: Warum sollen wir das Geschäft nicht selber machen? Coop Zeitung und Migros Magazin sind die klassischen Vorreiter gewesen. Inzwischen sehen wir immer mehr Erzeugnisse des Corporate Publishing, die nicht mehr nur gesponsert daher kommen, sondern dank hoher Wertigkeit auch Anzeigen von Drittfirmen oder gar Vertriebserlöse generieren. Das Uhrenmagazin von IWC ist nur ein Beispiel dafür. IKEA experimentiert mit «Magalogs». Da steht eine ganze neue Branche in den Startlöchern, natürlich mit allen Verzweigungen in die Online-Welt: Corporate Publishing. Die gute Nachricht lautet: Auch die brauchen Journalismus.

• Internationalisierung: Die Schweizer Medienindustrie mit ihrer ausgeprägten lokalen Fixierung war nie besonders exportstark. Prominente Ausnahmen sind Ringier, Edipresse und Jürg Marquard. Der Einbruch der aus Skandinavien stammenden Pendlerzeitungen hat der Internationalisierung Schub verliehen. Inzwischen stossen manche Marken – im Spezial- und Fachzeitschriftenbereich, im Internet sowieso – global vor. EBay, Google, Yahoo, Homegate, Search und andere haben es vorgemacht. Es gibt noch jede Menge Lücken und Gelegenheiten für findige Start-ups (Doodle als Beispiel, eben gerade an Tamedia verkauft). Auch Printmarken sind erfolgreich internationalisiert worden («Vinum»).

Prognose: Ich bin dennoch für die Zukunft des Medienwesens nicht pessimistisch. Unsere Geschäftsgrundlage ist intakt, denn die Welt wird immer komplizierter. Der Bedarf nach Welterklärung auf dem Wege der Komplexitätsreduktion steigt (Libyen, Japan!). Überleben werden wir mit einer kompromisslosen Qualitätsförderung, wobei Qualität in meiner Definition bedeutet: Optimale Befriedigung der Kundenbedürfnisse bei Wahrung der professionellen und ethischen Maximen auf der jeweils passenden Flughöhe. Qualität ist folglich nicht dasselbe wie Niveau. Oder mit anderen Worten: Man kann auf jedem Niveau Qualität anbieten. Zeitschriften wie die «Glückspost» leisten diesen Beweis jede Woche. Wir müssen aber – gerade als Journalisten – uns mehr um das Geschäft kümmern und mehr davon verstehen, so, wie wir vor zehn Jahren anfangen mussten, nicht nur Inhalte zu produzieren, sondern auch deren formale Darstellung zu erlernen.

Die grosse offene Frage für mich ist: Was stellt die Digitalisierung mit unseren künftigen Nutzerinnen und Nutzern an, mit meinen Kindern und den noch nicht geborenen Enkeln? Ich beobachte eine zunehmende Neigung zum selektiven Informationsverhalten. Der Mensch funktioniert wie eine Suchmaschine. Er braucht gerade den Euro-Kurs oder den Wetterbericht, also sucht er diesen selektiv. Dem steht das Kulturmodell Zeitung gegenüber, die uns eigentlich täglich mit dem Unnützen, dem Unerwarteten konfrontiert und uns als kompaktes Informationspaket die Welt in ihrer ganzen Vielfalt ins Haus bringt. Diesen Wert möchte ich persönlich nicht verlieren. Aber wenn wir heranwachsende Generationen nur noch zu fokussiertem Informationsverhalten und nicht mehr zur intellektuellen Neugier und zur Sinnlichkeit des Stöberns und Entdeckens erziehen, wird dieses Kulturmodell gefährdet sein.

Der Autor, ausgezeichnet mit dem Zürcher Journalistenpreis,  ist Publizist und Kolumnist. Die hier wiedergegebenen Äusserungen basieren auf einem Referat, das er vor der Redaktion der Schaffhauser Nachrichten gehalten hat. Karl Lüönd im Internet: www.tolhusen.ch